Funktionales Übersetzen

Aus Die Offene Bibel

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Funktionales Übersetzen ist eine Übersetzungsmethode, die translationswissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt. Sowohl für den Ausgangstext als auch für den Zieltext werden hierbei Textfunktionen, Adressaten und kultureller Hintergrund analysiert bzw. definiert.

Die funktionalen Translationstheorien setzen bei der Erkenntnis ein, dass die Deutung eines Textes nicht nur von sprachlichen Eigenschaften abhängt, sondern auch vom Kontext seiner Verwendung. Schließlich sind Texte kein Selbstzweck, sondern haben eine kommunikative Intention. Dieses Kommunikationsziel („Textfunktion“) muss bei einer guten Übersetzung berücksichtigt werden.

Der funktionale Ansatz gründet auf der Beobachtung, dass Übersetzungen verschiedene Adressaten, einen anderen kulturellen Kontext sowie unterschiedliche Textfunktionen haben können. Dies ist z.B. der Fall, wenn ein Erzähltext als Lied übersetzt wird, oder auch ein poetischer Text als Studienbibel. Aus dieser Beobachtung folgt auch, dass die eine Übersetzung für alle Menschen und Zwecke prinzipiell unmöglich ist.

Zum Kontext von Texten und Übersetzungen[Bearbeiten]

Sprache und Kontext eines Textes[Bearbeiten]

Die Bedeutung eines Textes ergibt sich aus dem Zusammenspiel zahlreichen Faktoren. Manche dieser Faktoren sind sprachlicher Natur:

  • Wortwahl: Jede Sprache hat ein unterschiedliches Vokabular. Oft gibt es mehrere Wörter mit fast identischer Bedeutung. Oft hat ein Wort aber auch sehr unterschiedliche Alternativ-Bedeutungen. Diese Mischung ist in jeder Sprache anders, weshalb es eine absolut exakte Übersetzung prinzipiell niemals geben kann. Zwischen den biblischen Sprachen und dem heutigen Deutsch gibt es hier sehr viele Unterschiede.
  • Grammatik: Die genauen Wortformen und der Satzbau funktionieren in jeder Sprache anders. Manche grammatikalischen Eigenschaften der Urtexte (hebräische Satzfolgen, griechische Aspekte) lassen sich im Deutschen nur mit völlig anderen Konstruktionen umschreiben.
  • Textsorten: In jeder Sprache sind andere Textsorten üblich, die jeweils großen Einfluss darauf haben, wie der Text verstanden wird.
  • Stil und Sprachebene: Stilistische Elemente wie Wortwahl, gewählte Satzkonstruktionen und verwendte Stilfiguren haben einen Einfluss darauf, wie ein Text verstanden wird. Diese Konventionen sind sprach- und zeitspezifisch.


Neben diesen sprachlichen Eigenschaften ist außerdem der Kontext extrem wichtig, in dem der Text verwendet wird:

  • Kulturelle Zusammenhänge: Jede sprachliche Aussage setzt kulturelles Wissen voraus. Beispielsweise ruft das Wort „Regenwetter” in Deutschland völlig andere Vorstellungen hervor als in Indien oder in der Sahara. Ähnlich ist es mit Tischsitten, sozialen Normen, Redensarten, Weltbildern, vorausgesetztem Wissen, ...
  • Intendierte Leserschaft: Je nachdem, wer als Leser im Blick ist, kann der Text eine völlig andere Aussage haben. Beispielsweise ist der Satz "Das Geld der Reichen wird an die Armen verteilt werden" ein Drohwort für reiche Menschen, für arme Menschen aber ein Heilswort.

Kontext des Ausgangstextes[Bearbeiten]

Um den Kontext des Ausgangstextes zu verstehen, eignen sich die folgenden drei Leitfragen.

  • Funktion des Textes: Was ist das Anliegen des Ausgangstextes?
  • Adressat: An welche Leser richtet sich der Ausgangstext?
  • Kultureller Hintergrund: In welche historisch-kulturelle Situation „spricht“ der Ausgangstext?


Bei sehr vielen Texten lassen sich diese Fragen nicht eindeutig beantworten, weil mehrere Adressatenkreise gleichzeitig im Blick sind, weil sich mehrere Intentionen mischen oder weil Adressaten und Anliegen des Textes unklar sind.

Für die biblischen Texte werden diese Fragen in der historisch-kritischen Exegese diskutiert. Bei vielen Bibelstellen lässt sich eine klare Mehrheitsmeinung im wissenschaftlichen Diskurs feststellen. Bei andere Bibelstellen ist der Kontext nicht eindeutig festzustellen (siehe unten).

Kontext der Übersetzung[Bearbeiten]

Um die Qualität einer Übersetzung einschätzen zu können, müssen die intendierten Adressaten und Verwendungszwecke bekannt sein. Dies gilt auch für Bibelübersetzungen. Leider vermeiden es jedoch die meisten Übersetzungsprojekte, diese grundlegenden Fragen zu klären:

  • Funktion des Textes: Welchem Zweck soll die Übersetzung dienen?
  • Adressat: An welche Leser richtet sich die Übersetzung?
  • Kultureller Hintergrund: In welcher historisch-kulturellen Situation soll die Übersetzung verwendet werden?


Die Übersetzung kann also eine andere Funktion haben als der Ausgangstext (Beispiele: Übersetzung eines poetischen Textes als Studienfassung; Übersetzung des Philemonbriefs für den Zweck einer Lesung im Gottesdienst).

Bei Bibelübersetzungen liegt außerdem immer kulturelle Varianz sowie Adressatenvarianz vor, da der große kulturelle und gesellschaftliche Abstand völlig äquivalente Zielgruppen unmöglich macht. Je nach Bibelstelle und gewählter Zielgruppe ist diese Varianz verschieden groß.

Adäquatheit und Äquivalenz[Bearbeiten]

Eine Übersetzung ist adäquat, wenn sie den angestrebten Zweck erfüllt (Verwendungszweck, Zielgruppe). Sie ist darüber hinaus auch äquivalent, wenn die Funktion des Ausgangstextes und der Übersetzung übereinstimmena (Funktionskonstanz).

Beispiel 1: Die adäquate Wortwahl einer Bibelübersetzung unterscheidet sich je nachdem, wer als Zielgruppe im Blick ist –Theologiestudierende, Kindergottesdienst, die Gottesdienstbesucher einer Arbeiterviertels oder eine Schulklasse mit Gehörlosen.

Beispiel 2: Eine Studienfassungs-Übersetzung des Vaterunsers erfüllt mit ihren Klammern und Fußnoten nicht mehr die Textfunktion „Gebet“. Sie kann dennoch eine adäquate Übersetzung' sein, wenn sie die Zielsetzung der Studienfassung erfüllt. Die Lesefassungs-Übersetzung dagegen kann die Textfunktion „Gebet” erfüllen. Es ist also möglich, auch funktionale Äquivalenz anzustreben. (Problem: Oft erfüllt ein Text im Gesamtzusammenhang des biblischen Buches mehrere Funktionen, die in der Übersetzung nicht alle gleichermaßen adäquat wiedergegeben werden können.)

Beispiel 3: Einige Bibelstellen enthalten große sprachliche Probleme (z.B. unbekannte Wörter oder Brüche im Satzbau). In manchen Fällen ist die Aussageabsicht aus dem Kontext dennoch klar zu erschließen. Die meisten Übersetzungen glätten den Text in diesem Fall, damit er z.B. im Gottesdienst problemlos vorgelesen werden kann. Eine Übersetzung in einem wissenschaftlichen Kommentar kann dagegen das Ziel haben, sprachliche Fragen des Ausgangstextes möglichst transparent zu zeigen. In diesem Fall wäre vielleicht eher ein Nachbilden der sprachlichen Probleme adäquat.

Besondere Problematik bei Bibeltexten[Bearbeiten]

Der funktionale Ansatz macht eine Reihe von Schwierigkeiten sichtbar, die beim Übersetzen von Bibeltexten auftreten.

Unsicherheit beim Kontext des Ausgangstextes[Bearbeiten]

Texte, deren Intention oder deren urspünglicher Kontext unklar sind, stellen Übersetzer vor große Probleme, die sich in vielen Fällen nicht zufriedenstellend auflösen lassen. Dies gilt unabhängig von der gewählten Übersetzungsmethode.

Im Fall von Bibelübersetzungen treten diese Schwierigkeiten verstärkt auf. Beispiele:

  • Manchmal ist die Intention eines Bibeltextes in der wissenschaftlichen Literatur sehr stark umstritten.
  • Manche Bibelstellen enthalten kaum Hinweise darauf, welcher historische Kontext und welche Adressaten ursprünglich im Blick waren.
  • Viele Texte waren schon zu biblischer Zeit offen für verschiedene Funktionen und Adressaten.


Übersetzungen können in solchen Fällen im besten Fall dem Weg folgen, der mit der größten Wahrscheinlichkeit die geringste Verzerrung der Aussageabsicht enthält („kleinstes Übel“). Bei der Studienfassung ist es außerdem möglich, diese Probleme in Fußnoten dokumentieren und so für die Leser transparent zu machen.

Einige Übersetzungen versuchen die Gefahr von Fehlentscheidungen seitens der Übersetzer zu vermeiden, indem eine stark formalisierte Übertragungsmethode gewählt wird (formale Äquivalenz, Interlinearübersetzung, konkordantes Vorgehen). Die Wahrscheinlichkeit ist dabei jedoch sehr hoch, dass die Übersetzung keine einzige der möglichen Textintentionen so wiedergibt, dass sie für die Leser der Übersetzung verständlich ist. (Je nach angestrebtem Verwendungszweck der Übersetzung kann trotzdem das Kriterium der Adäquatheit erfüllt sein.)

Komplexe Textgeschichte[Bearbeiten]

Bei manchen Bibelstellen hat sich der historische Kontext im Laufe der Textgeschichte verändert:

  • Viele Texte aus den Evangelien wurden zunächst mündlich überliefert, dann aufgeschrieben und erste später in den Gesamttext des Evangeliums integriert.
  • Einigen Paulusbriefen wird älteres Traditionsgut zitiert.
  • Nach wissenschaftlicher Erkenntnis haben viele biblische Bücher (z.B. Genesis, Jesaja) eine komplexe, mehrstufige Entstehungs- und Editionsgeschichte.


In vielen Fällen sind die älteren Textschichten nicht mehr vollständig rekonstruierbar. Damit bleibt auch der ursprüngliche historische Kontext ungesichert.

Fast alle Übersetzungsprojekte umgehen dieses Problem, indem sie von Endgestalt des Bibeltextes ausgehen. Eine entscheidende Leitfrage für die Übersetzung wäre dann: „Welches Kommunikationsziel erfüllt dieser Abschnitt im Zusammenhang des Gesamttextes?“ (Für eine wissenschaftlich-fundierte Beantwortung dieser Frage kann es notwendig sein, die Frage der Textgeschichte im Blick zu behalten. Zum Umgang mit Zweifelsfällen siehe den vorangehenden Abschnitt.)

Mehrere Verwendungszwecke und Zielgruppen für die Übersetzung[Bearbeiten]

Es gibt zahlreiche verschiedene Verwendungszwecke für Bibelübersetzungen (Beispiele: Lesungen in Gottesdiensten, private Andacht, Bibelstudium, historisches Interesse). Wenn eine Übersetzung mehrere dieser Funktionen bedienen will, dann ist im Konfliktfall eine Prioritätensetzung oder ein Kompromissweg notwendig. Ähnliches gilt, wenn verschiedene Zielgruppen als Leser (oder Hörer) der Übersetzung im Blick sind.

Leider verzichten meisten Bibelübersetzungen darauf, ihre angestrebten Zielgruppen und Verwendungszwecke festzulegen bzw. offenzulegen. Eine funktional-translationswissenschaftliche Beurteilung ihrer Adäquatheit ist in diesen Fällen natürlich nicht möglich.

Übersetzungstradition[Bearbeiten]

Die Bibelübersetzung von Martin Luther hat die deutsche Sprache geprägt. Spätere Übersetzungen haben sich ihrer Wortwahl oft angeschlossen – insbesondere bei schwer übersetzbaren Worten wie נֶפֶשׁ („Seele“, eigentlich: Windhauch, Lebensatem, innerster Personenkern). Eine Übersetzung, die von dieser Tradition abweicht, gilt oft als „frei“ oder „umschreibend“ – selbst wenn sie das Kommunikationsziel des Urtextes inhaltlich angemessener und genauer wiedergibt.

Aus der großen Wirkungsgeschichte ergibt sich noch ein weiteres Problem: In manchen Fällen ist die Lutherübersetzung einer Bibelstelle als Sprichwort in die deutsche Sprache eingegangen. Das Sprichwort hat dabei aber häufig eine andere inhaltliche Aussage als die zugrundeliegende Bibelstelle (z.B. „Perlen vor die Säue“, „Zahn um Zahn“).

Eine dritte Schwierigkeit ist der Sprachwandel der vergangenen fünf Jahrhunderte. Die Verwendung einiger Worte hat sich seither grundlegend gewandelt (z.B. „fromm“, „Sünde“).

Die Bedeutungsalternativen und Fußnoten der Studienfassung können ein Weg sein, von der Tradition abweichende Übersetzungsentscheidungen in Lesefassung und Bibel in Leichter Sprache nachvollziehbar zu machen.

Heiligkeit des Textes und Ziel der Übersetzung[Bearbeiten]

Die Bibel hat eine herausragende religiöse Stellung. Schon zu vorchristlicher Zeit stellte sich daher die Frage nach der angemessenen Methodik beim Übersetzen: Wie kann man eine „Heilige Schrift“ übersetzen, ohne sie zu verfälschen?

Der amerikanische Linguist Eugene Nida (1914–2011) unterscheidet bei dieser Frage zwischen formaler Äquivalenz und dynamischer Äquivalenz. Formale Äquivalenz bedeutet, dass eine Übersetzung an der sprachlichen Struktur des Ausgangstextes auf Kosten der Verständlichkeit festhält („wörtliche“, strukturtreue Übersetzung). Eine Bedeutungsverschiebung kann hierbei nicht vermieden werden, da die Struktur von Ausgangs- und Zielsprache verschieden sind und formal äquivalente Formulierungen somit trotzdem unterschiedliche Bedeutungen nahelegen. Dynamische Äquivalenz dagegen stellt die Treue zum Inhalt über die Treue zur Form („kommunikative“, wirkungstreue Übersetzung). Die Formulierungen der Übersetzung sollen in der Zielsprache dieselbe Wirkung auf den Leser bzw. Hörer haben wie die ausgangssprachlichen Formulierungen. Dabei wird eine Verschiebung der sprachlichen Struktur bewusst akzeptiert.

Die funktionalen Ansätze der Translationswissenschaft erweitern diese Unterscheidung zusätzlich um den Blick auf den Verwendungszweck und die Adressaten. Dadurch zeigen sie eine wichtige Voraussetzung für dynamische Äquivalenz: Es lässt sich nur dann sinnvoll von Wirkungstreue reden, wenn die Übersetzung einem äquivalenten Zweck dient wie der Ausgangstext. Beispielsweise hatte der Philemonbrief historisch das Ziel, die gütliche Wiederaufnahme eines entlaufenen Sklaven in den Haushalt seines Besitzers zu bewirken. Es wäre absurd, bei einem heutigen Bibelleser dasselbe bewirken zu wollen.

Fazit[Bearbeiten]

Wenn Übersetzungsprojekte die funktionale Translationswissenschaft berücksichtigen, dann sollten sie offenlegen, welche Zielgruppen und Verwendungszwecke sie ermöglichen möchten. Dies ermöglicht die Beurteilung und Einschätzung der Übersetzung:

  1. Steht der angestrebte Verwendungszweck selbst im inhaltlichen Widerspruch zur Bibel? (Beispiel: Eine Übersetzung mit dem Hauptziel, Judenhass zu verrstärken, kann niemals schriftgemäß sein.)
  2. Ist die Übersetzung adäquat für ihren Verwendungszweck und ihre Zielgruppe? (Beispiel: Wörtliche Übersetzungen können den Schriftsinn entstellen, wenn sie von der Zielgruppe nicht verstanden werden.)
  3. Können Nutzer der Übersetzung nachvollziehen, ob sie die Übersetzung für geeignete Zwecke verwenden? (Beispiel: Eine Übersetzung in Leichter Sprache ist ungeeignet für das Studium sprachlicher Feinheiten des Urtextes)

Weiterführende Literatur[Bearbeiten]

Anmerkungen[Bearbeiten]

aPrunč 2 2002, 168 (Zurück zum Text: a)